Der einschneidende Struktur- und Technologiewandel in der globalen Automobilindustrie setzt manchen Herstellern mehr zu als anderen. Chinas führende Anbieter sogenannter New Energy Vehicles (NEV), ein Begriff der rein batterieelektrische Fahrzeuge, Plug-in-Hybride und andere alternative Antriebsformate umfasst, trotzen derzeit nicht nur diesen Turbulenzen, sondern entwickeln sich dank eines „neuen Betriebsmodells“ („New Operating Model“) auch zur treibenden Kraft hinter dem globalen Strukturwandel der Automobilbranche. Zu dieser Einschätzung kommt das Beratungsunternehmen AlixPartners in seiner nunmehr 22. Ausgabe des Global Automotive Outlook.
Chinesische NEV-Hersteller setzen demnach neue Maßstäbe in Sachen Geschwindigkeit, Effizienz und Innovation in einer Branche, die derzeit mit langsamem Wachstum, hartnäckig hohen Kosten, wenig wirkungsvollen Elektro-Investitionen im Westen und dem Aufstieg der technologischen und preislichen Führungsrolle chinesischer E-Fahrzeuge zu kämpfen hat. Zulieferer und Hersteller sollten nach Ansicht von AlixPartners deshalb weiterhin versuchen, Lehren aus den Strategien der Gewinner auf dem chinesischen Markt zu ziehen, um sich für die Transformation im eigenen Land eine bessere Orientierung zu verschaffen.
AlixPartners: Chinesische Hersteller verdoppeln ihre europäischen Marktanteile bis 2030
Mit Blick auf chinesische Hersteller stellt AlixPartners in seinem Ausblick mehrere Erkenntnisse gesondert heraus: Die Preiskämpfe in China halten demnach an, verlagern sich jedoch bis 2025 auf „verstecktere” Faktoren, was wahrscheinlich zu weiteren internationalen Expansionsplänen der stärkeren chinesischen Automobilhersteller und Zulieferer führen wird. Chinesische Automobilhersteller dürften nach Ansicht des Beratungsunternehmens ihren Marktanteil in Europa bis 2030 auf 10 Prozent verdoppeln, da sie ihre Fahrzeugproduktion derzeit lokalisieren, während europäische Automobilhersteller in ihren Werken mit eher geringer Auslastung konfrontiert sind.
AlixPartners erwartet darüber hinaus, dass chinesische Autobauer ihre Jahresproduktionskapazitäten in Europa bis 2030 um 800.000 Fahrzeuge steigern werden, während ihre europäischen Konkurrenten Kapazitäten in Höhe von 400.000 Fahrzeugen abbauen könnten, was etwa der Auslastung von anderthalb Werken entsprechen würde.
Die Kosten der neuen US-Importzölle dürften für 2026 voraussichtlich bei rund 30 Milliarden US-Dollar liegen, heißt es in dem Report. Nach Beobachtungen von AlixPartners veranlassen diese Zölle viele US-Unternehmen dazu, eine Verlagerung ihrer Lieferketten aus China in Betracht zu ziehen, um die Auswirkungen abzumildern.
Flexibilität, Geschwindigkeit und Effizienz sind nun entscheidend für die Traditionshersteller
„China ist einer der wettbewerbsintensivsten NEV-Märkte der Welt, mit intensiven Preiskämpfen, rasanten Innovationen und neuen Marktteilnehmern, die die Messlatte ständig höher legen. Dieses Umfeld hat zu bemerkenswerten Fortschritten in Technologie und Kosteneffizienz geführt, aber auch dazu, dass viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, eine nachhaltige Rentabilität zu erreichen. Angesichts des nachlassenden Wachstums im Inland und der zunehmenden globalen Handelsbarrieren müssen sich chinesische EV-Hersteller auf den Aufbau starker Marken, Investitionen in fortschrittliche Technologien wie autonomes Fahren und die Lokalisierung ihrer Aktivitäten in wichtigen internationalen Märkten konzentrieren“, so Dr. Stephen Dyer, Leiter des Bereichs Automobil und Industrie in Asien bei AlixPartners. „Nur diejenigen, die sich schnell anpassen, effizient skalieren und sowohl nationale als auch globale Herausforderungen meistern können, werden auf der Weltbühne weiterhin erfolgreich sein.“
AlixPartners prognostiziert, dass der chinesische NEV-Markt mit fortschreitender Reife eine deutliche Konsolidierung erleben wird, wobei nur die wettbewerbsfähigsten Marken in den kommenden Jahren erfolgreich sein werden. In den vergangenen Jahren kamen in China etliche neue E-Auto- und NEV-Marken hinzu, die sich seit geraumer Zeit einen aggressiven Preiskampf liefern – meist zulasten der Rentabilität.
Von 129 chinesischen NEV-Marken dürfte 2030 nur noch ein Bruchteil übrig sein
Das Beratungsunternehmen erwartet, dass von den 129 Marken, die im vergangenen Jahr NEVs in China verkauft haben, voraussichtlich nur 15 bis 2030 eine finanzielle Rentabilität erreichen und drei Viertel des gesamten NEV-Markts erobern werden. Einige führende NEV-Anbieter haben bereits eine ganzjährige Rentabilität erreicht, was das Potenzial für nachhaltiges Wachstum unterstreicht, so das Beratungsunternehmen. Während einige Marken wahrscheinlich aus dem Markt ausscheiden oder konsolidiert werden, führen diese Veränderungen dennoch zu einer wettbewerbsfähigeren und innovativeren Landschaft für Chinas NEV-Industrie, angetrieben durch das „neue Betriebsmodell“ das sich auf Geschwindigkeit, Kosteneffizienz und agile Entscheidungsfindung konzentriert.
Der Ausblick identifiziert zudem zwei wichtige Maßnahmen, mit denen Automobilhersteller die bevorstehenden Herausforderungen bewältigen könnten: Eine wichtige Voraussetzung sei ein umfassendes Verständnis und die Nutzung der Revolution im Bereich der fortschrittlichen Mobilität, einschließlich fortschrittlicher Fahrerassistenzsysteme (ADAS, Advanced Driver Assistance Systems). China sei heute führend in der Fahrzeugtechnologie, von NEVs bis hin zu ADAS, und das nicht nur in Bezug auf die Kosten, gibt AlixPartners zu bedenken. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Wachstum des globalen ADAS-Marktes das des traditionellen Fahrzeugmarktes übertrifft, und prognostiziert, dass er bis 2030 ein Volumen von 50 Milliarden US-Dollar erreichen wird. Chinas Marktanteil an diesen Technologien soll dabei auf 45 Prozent steigen.
Trotz des anhaltenden Preiskampfes nutzen chinesische NEV-Marken zudem Kostenvorteile sowie nicht kaufpreisbezogene Anreize wie Versicherungszuschüsse, Barrabatte und zinslose Finanzierungen, um ihre Marktanteile zu halten und Fahrzeuge erschwinglicher zu machen.
Intelligente Fertigung und unbemannte Fabriken: Einsatz von KI wird immer wichtiger
Ein weiterer Faktor, auf den Traditionshersteller den Beratern zufolge achten sollten, ist die Nutzung der Möglichkeiten, die KI-gestützte Lösungen zur Verbesserung der Abläufe bei Automobilherstellern und Zulieferern bieten. Durch diese Technologien sollen sich die traditionellen Entwicklungszeiten und Verifizierungskosten um 20 Prozent senken lassen. Mit dem rasanten Fortschritt von KI-Systemen und den wachsenden Anforderungen der Hersteller an mehr Effizienz und Produktvielfalt habe die Automobilindustrie einen entscheidenden Moment erreicht – sowohl technologisch als auch auf den Markt bezogen. Diese Revolution wird laut AlixPartners zunehmend von KI statt von Menschen angeführt werden und letztlich den Weg für die Umsetzung unbemannter Fabriken ebnen.
„Die Exporte chinesischer OEMs haben sich aufgrund von Zöllen und geopolitischer Unsicherheit verlangsamt, aber der Export des chinesischen ‚neuen Betriebsmodells‘ – angetrieben durch Partnerschaften und Joint Ventures – gewinnt an Fahrt. Dieses Modell ermöglicht es Automobilherstellern, Fahrzeuge doppelt so schnell auf den Markt zu bringen, mit 40 bis 50 Prozent niedrigeren Investitionen und einem Kostenvorteil von 30 Prozent, neben einem raschen Wachstum in der intelligenten Fertigung“, erklärt Yichao Zhang, Partner der Greater China Automotive Practice bei AlixPartners. „Angesichts der Weiterentwicklung der Automobilfertigung der nächsten Generation müssen OEMs sich mit sich verändernden Investitionsprioritäten, Infrastruktureinschränkungen und dem Wandel im Bereich der Fachkräfte auseinandersetzen, um KI präzise einsetzen zu können.“
Statt Silo-Denken: Westliche Hersteller brauchen „moderne Werkzeuge und wettbewerbsfähige Betriebsmodelle“
„Die westliche Automobilindustrie, OEMs wie Zulieferer, muss sich moderne Werkzeuge und wettbewerbsfähige Betriebsmodelle aneignen, um die Agilität zu schaffen, mit der die schnell aufeinander folgenden Krisen bewältigt werden können“, so Mark Wakefield, Global Automotive Market Lead bei AlixPartners. „Die Nutzer solcher Betriebsmodelle werden die Lähmung durch die zunehmenden Krisen überwinden und sich auf diversifiziertes, Handeln vorbereiten, das sich auf gemeinsame, einheitliche Daten und eine strategische Haltung und Zielsetzung stützt, statt auf die alten hierarchischen Silos, das Stapeln von Spezifikationen und deterministische Strategien.“
Chinas Exportanstrengungen festigen laut AlixPartners die Rolle des Landes als treibende Kraft für Veränderungen in der gesamten Branche, die mit Herausforderungen in der Lieferkette zu kämpfen hat, die sich in den letzten Monaten durch den Zugang zu wichtigen Mineralien noch verschärft haben. Dies führe zu einer Dreiteilung der Branche in die chinesischen, europäischen und den US-amerikanischen Regionen.
„In der Automobilindustrie gibt es eine ununterbrochene Folge von Umwälzungen, und ihre Kadenz nimmt weiter an Fahrt auf“, erklärt Andrew Bergbaum, Global Leader der Automotive & Industrial Practice bei AlixPartners. „Ein Ergebnis ist, dass, wie ich es manchmal ausdrücke, ‚Europa zum Verkauf steht‘ – womit ich all die M&A-Deals und Gelegenheiten meine, in denen europäische Automobilunternehmen die Handelsware sind. Es liegt auf der Hand, dass die Branche heute weltweit über Maßnahmen nachdenken sollte, an die sie möglicherweise noch nie gedacht hat.“
Quelle: AlixPartners – Pressemitteilungen vom 19.06.2025 und 23.06.2025