Steer by wire: Abschied von der Stange

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Opel

Stefan Grundhoff
Stefan Grundhoff
  —  Lesedauer 5 min

Die Lenkung ist neben Motor und Bremse eine der wichtigsten technischen Ausstattungen des Fahrzeugs. Nachdem sich in den vergangenen 100 Jahren nur Details veränderten, steht die elektronische Lenkung „Steer by Wire“ vor dem Durchbruch. Ganz nebenbei werden die Steuerräder eckig – und verschwinden zeitweise komplett.

Die Lenkung sorgt beim Auto für die rechte Richtung und ist nicht ganz unbeachtlich eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen Fahrer und seinem Gefährt. Nur die Lenkung macht es dem Fahrer möglich, sein Auto zu führen oder in die richtige Bahn zu lenken – egal, ob Abbiegen, Einparken, schnelles Ausweichen oder einfach nur Spur halten.

Aktuell besteht zwischen dem meist runden Lenkrad obligatorisch eine feste Verbindung in Form einer Lenkstange, die die Befehle des Fahrzeugführers in Richtungswechsel ummünzt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen geschieht das seit mehreren Jahrzehnten mit einer Servounterstützung, die die Lenkkräfte minimiert und Kräfte spart. Dies geschah lange Jahre ausschließlich hydraulisch und mittlerweile zunehmend mit elektrischer Unterstützung – gerade bei Fahrzeugen mit einem Elektromotor oder einer Start-Stopp-Automatik, sodass die Unterstützung durch den Motor direkt anliegt und nicht erst Druck im Hydrauliksystem aufgebaut werden muss.

Die Lenkung der nahen Zukunft geht zwei Schritte weiter

Doch die Lenkung der nahen Zukunft geht zwei Schritte weiter, denn sie verzichtet auf die starre Verbindung in Form einer Lenkstange, die über ein Gelenk auf die Vorder- und bisweilen auch auf die Hinterräder einwirkt. Bei der elektronischen Steuerung mit der Bezeichnung Steer by Wire (Steuerung per Kabel) ist das Lenkrad nicht mehr als ein Bedienelement wie ein Joystick, dessen elektronische Befehle rein digital umgesetzt werden – und das deshalb nicht mehr zwingend rund sein muss.

Der Wunsch der Ingenieure, dass man auf eine Lenkstange verzichten kann, hat nicht allein den Grund, dass man den Bauraum im Vorderwagen anders nutzen kann und eine teure Komponente entfällt. Zudem gibt es nennenswerte Vorteile bei einem etwaigen Frontaufprall, weil die Energie des Zusammenstoßes nicht in irgendeiner Form per Lenkstange und Steuerrad Richtung Fahrer gelangt.

Eine Lenkung ohne Lenkstange ist keine Idee, die erst in den vergangenen Jahren aufgekommen ist oder gar mit der zunehmenden Elektrifizierung Einzug gehalten hat. Immer wieder stellten verschiedene Zulieferfirmen Prototypen vor, die über kein gewöhnliches Lenkrad nebst Zahnstangen- oder Kugelumlauflenkung verfügten.

Zu den bekanntesten Modellen gehören der Mercedes-Prototyp des SL Baureihe R129 aus dem Jahr 1998 oder zwei Jahre zuvor das Zukunftsmodell des Mercedes F 200 Imagination. Silberner Roadster und Visionscoupé wurden jeweils nicht über ein Lederlenkrad gesteuert, sondern über ein beziehungsweise zwei Joysticks. Mit diesen Steuerelementen konnte der Fahrer nicht nur die Fahrtrichtung ändern, sondern bediente gleich auch Gas und Bremse.

Mercedes-F-200-Joystick
Mercedes-Benz

Steer by Wire ist mehr als eine Lenkung allein und eröffnet völlig neue Möglichkeiten in Sachen Lenkradgestaltung, Fahrerassistenz und Sicherheit – was beides direkt wie indirekt für einen nennenswerten Komfortgewinn sorgt. Der Grund liegt auf der Hand, denn durch das fehlende Bindeglied der Lenkstange können die Ingenieure die Steuerung nahezu nach Belieben vernetzen, und damit nicht nur Einfluss auf Vorder- oder Hinterräder, sondern auch Lenkwinkel oder Module des Fahrwerks Einfluss nehmen.

Umgreifen war gestern

Der Fahrer merkt von der geänderten Anbindung der Lenkung zumindest offensichtlich nichts. Der spürbarste Unterschied liegt für Autofahrer in den Umrandungen des Lenkrades. Muss der Fahrer sonst für eine 180-Grad-Kehre mehrfach umgreifen und das Lenkrad gut zweieinhalb Mal um sich selbst drehen, sieht das bei Steer by Wire völlig anders aus. Je nach Fahrzeugmodell und angewähltem Fahrprogramm ist das Umgreifen überflüssig und der Pilot kann aus der Mittellage der Lenkung alle Manöver mit einfachen Bewegungen der Arme erledigen.

Toyota will die Steer-by-Wire-Technik wohl noch in diesem Jahr in ersten Serienanwendungen bei Modellen wie dem bZ4x oder dem Lexus RZ einführen. Bisher gibt es abgesehen vom Tesla Cybertruck und einigen Infinti-Modellen kaum mehr als einige Prototypen, die auf die Lenkstange verzichten. Die Japaner lassen das Lenkrad ebenso wie einige Zulieferer nach oben offen, weil ein Umgreifen und damit die Notwendigkeit eines vollen Lenkradkranzes entfällt. Neben den japanischen Herstellern wie Toyota treibt unter anderem der chinesische Autobauer Nio oder General Motors aus den USA die Entwicklungen voran – mit entsprechender Expertise von Zulieferern wie Bosch oder ZF.

Die elektrischen Ober- und Luxusklassenmodelle Cadillac Lyriq und Celestiq sollen ab 2026 ebenfalls mit Steer by Wire zu bekommen sein – zumindest auf einigen Märkten, wo bereits die juristischen Rahmenbedingungen existieren. Das ist in China zum Beispiel beim neuen Nio ET9 der Fall, der ab kommendem Monat auf dem Heimatmarkt ausgeliefert wird. Das 5,32 Meter lange Luxusmodell mit seinem stattlichen Radstand von 3,25 Meter hat Dank Steer by Wire und mitlenkender Hinterachse einen Wendekreis von gerade einmal 10,90 Meter – das ist Kleinwagenniveau.

DS_Citroen_SM_Tribute-Antrieb
DS

Stellantis hat mit Zukunftsmodellen wie dem DS SM Tribute, Peugeot Inception Concept oder dem Opel Experimental in den vergangenen knapp zwei Jahren ebenfalls seriennahe Ausblicke auf die neue Lenktechnik gegeben. Mit dem Peugeot Inception Concept gab Stellantis nicht nur einen Ausblick auf ein Serienfahrzeug mit Steer-by-Wire-Lenkung, sondern mit dem sogenannten Hypersquare auch eine völlig neue Lenkradform – eckig wie bei einer Spielkonsole.

Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wenn das Lenkrad bald nicht mehr rund geformt ist. Und mit neuen Fahrerassistenzsystem dürfte das Lenkrad dann wohl auch im autonomen Fahrmodus unsichtbar ins Cockpit hinfahren, wie bei einer Studie wie dem Audi Skysphere Concept zu sehen.

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Stefan Grundhoff

Stefan Grundhoff

Stefan Grundhoff ist Firmeninhaber und Geschäftsführer von press-inform und press-inform consult. Er ist seit frühester Kindheit ausgemachter Autofan. Die Begeisterung für den Journalismus kam etwas später, ist mittlerweile aber genau so tief verwurzelt. Nach Jahren des freien Journalismus gründete der Jurist 1994 das Pressebüro press-inform und 1998 die Beratungsfirma press-inform consult.

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Kirk:

Man darf tatsächlich gespannt darauf sein, wie die Rückmeldung bei solch einem System funktioniert und wie sich das für den Fahrer anfühlt.

Dirk:

Die jetzigen Umdrehungen am runden Lenkrad sind sicher z.T. historisch bedingt, aber erhöhen auch die Feinfühligkeit beim Lenken. Das nun auf 1 Umdrehung oder weniger zu reduzieren führt garantiert zu häufigem Übersteuern.

Pedro G.:

Ich mag keine Autofahrt mit einem JOYSTICK es fehlt die Rückmeldung von der Straße ⁉️

Dieter:

Was auch nicht zu vergessen ist, ich bin leider in der Lage, endlich Autos die auch vonBehinderten ohne größere Umrüstungen von Behinderten gefahren werden können. Zb. doppelt Oberschenkelamputiert, Eingeschränkt an den Armen usw., es wäre ein Riesen Fortschritt !!

Hans-Martin:

Eines Tages werden wir unseren Enkeln beim Anblick eines Oldtimers Bj. 2025 erklären: ‚Schau mal, früher hatten die Autos runde Lenkräder‘

MKU:

Würd wahrscheinlich redundant ausgelegt wie beim Flugzeug. Dann ist es genau so sicher.

Matze:

Eckige Lenkräder gefallen mir optisch nicht. Die Technik könnte bei Ausfall eine verheerende Schwäche des Fahrzeugs sein. Aber interessant isses mal….

Gregor:

Steer by Wire. Im Abo Modell können die Hersteller dann Sport oder Komfort verkaufen. Sehr praktisch. ;)

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