In einem Gastbeitrag in der renommierten Wirtschaftszeitschrift The Economist richtet sich Ola Källenius, Vorstandsvorsitzender von Mercedes-Benz und derzeit Präsident des europäischen Automobilverbands ACEA, mit klaren Worten an die Politik in Brüssel: Die europäische Autoindustrie stehe trotz massiver Investitionen in die Elektromobilität unter Druck – und brauche dringend einen realistischeren, pragmatischeren Kurs in der Industrie- und Klimapolitik. Andernfalls drohe Europa, den eigenen Anspruch auf technologische und wirtschaftliche Führerschaft zu verspielen.
Was ursprünglich als „Mondlandung Europas“ angekündigt wurde – der European Green Deal –, drohe sich zunehmend von den Realitäten auf dem Boden zu entfernen. Das ambitionierte Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein, bleibe richtig, so Källenius. Doch die gegenwärtige Ausgestaltung laufe Gefahr, den Wandel zu überfordern statt ihn zu fördern. „Wir dürfen uns nicht im Weltraum verlieren“, warnt der Mercedes-Chef bildhaft.
Dabei sei die Branche keineswegs untätig gewesen: Über 250 Milliarden Euro habe die europäische Automobilindustrie bereits in die grüne Transformation investiert, Hunderte neue Elektroauto-Modelle seien auf den Markt gekommen. Dennoch bleibe der Durchbruch beim Kunden bislang aus: Der Marktanteil von E-Autos liege im europäischen Schnitt bei rund 15 Prozent – deutlich unter den einstigen Erwartungen.
Källenius beschreibt ein drohendes Szenario, das er als „Havanna-Effekt“ bezeichnet: Wenn Kunden aufgrund zu rigider Regulierung oder fehlender Alternativen keine neuen E-Autos kaufen, sondern stattdessen ihre alten Verbrenner weiterfahren, bleibe die Flotte auf Europas Straßen alt, ineffizient und emissionsintensiv. Schon heute liege das Durchschnittsalter der Autos in der EU bei über zwölf Jahren – Tendenz steigend.
Ein faktisches Verbot des Verbrenners ohne begleitende marktwirtschaftliche Maßnahmen drohe damit das Gegenteil dessen zu bewirken, was eigentlich angestrebt werde: „Es schadet dem Klima, der Beschäftigung, dem Wohlstand und dem gesamten automobilen Ökosystem“, findet Källenius.
Drei Dimensionen für einen realistischen Kurs
Um das Ruder noch herumzureißen, fordert der Mercedes-Chef eine Kurskorrektur in drei zentralen Bereichen: Dekarbonisierung, Resilienz der Lieferketten und globale Wettbewerbsfähigkeit.
Die Dekarbonisierung dürfe nicht durch Strafzahlungen und starre CO2-Zielwerte erzwungen werden, sondern müsse mit marktwirtschaftlicher Flexibilität und technologischer Offenheit einhergehen. Neben Elektroautos sollten auch Plug-in-Hybride, effizientere Verbrenner und klimaneutrale Kraftstoffe eine Rolle spielen, findet Källenius. China zeige bereits, dass ein technologieoffener Ansatz die Umstellung beschleunigen könne.
Die Lieferketten seien aktuell zu stark von Asien abhängig, insbesondere im Batterie-Sektor. Europa müsse eigene Wertschöpfungsketten aufbauen, kritische Rohstoffe sichern und auf Diversifizierung setzen.
Die Wettbewerbsfähigkeit Europas stehe unter Druck, nicht zuletzt durch neue protektionistische Tendenzen weltweit. Höhere Handelsbarrieren – etwa in den USA – erschwerten Investitionen in die Transformation zusätzlich. Umso wichtiger sei es, den europäischen Binnenmarkt zu vollenden, Kapitalmärkte zu integrieren und regulatorische Hürden abzubauen.
Denn ein weiteres Problem sei die ausufernde Regulierung. In den kommenden Jahren stehen laut Källenius über 100 neue sogenannte „Implementing Acts“ auf dem Plan: eine Flut von Verordnungen, die Unternehmen zusätzlich belasten. Sein Vorschlag: Ein „Automotive Omnibus“, ein abgespecktes, branchenspezifisches Regelwerk, das bestehende EU-Verordnungen vereinheitlicht und den Takt der Umsetzung realistischer gestaltet.
Die Zeit drängt – der Appell nach Brüssel
Die nächsten zwölf Monate bezeichnet Källenius als entscheidend: „Entweder Europa passt sich den Realitäten an oder es riskiert, seine industrielle Führungsrolle durch Überregulierung und Stillstand zu verspielen.“ Das Ziel einer klimaneutralen und wettbewerbsfähigen Autoindustrie sei weiterhin erreichbar – aber nur, wenn Politik und Wirtschaft gemeinsam an einem Strang ziehen.
Die Automobilbranche stehe bereit, sich konstruktiv einzubringen. Nun liege es an der Politik in Brüssel, ihre Marschroute zu überdenken. Der Appell des Mercedes-CEOs: „Lasst uns das Problem lösen – bevor es uns einholt.“
Quelle: Mercedes-Benz – Pressemitteilung vom 16.07.2025