Ex-VW-Chefstratege: „Technologieoffenheit ist strategiefrei“

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Sebastian Henßler
Sebastian Henßler
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Michael Jost bleibt auch im zweiten Teil des Gesprächs mit Elektroauto-News-Herausgeber Sebastian Henßler seinem Grundsatz treu: Transformation gelingt nur mit Klarheit. Der frühere Chefstratege des Volkswagen-Konzerns und Gründer von Ed-Tec betrachtet die aktuelle industriepolitische Diskussion mit Skepsis. Vor allem den Begriff der sogenannten „Technologieoffenheit“ hält er für irreführend. „Technologieoffenheit klingt nach Fortschritt, ist aber strategiefrei“, sagt Jost. „Man kann sich nicht auf alle Wege gleichzeitig vorbereiten und dann glauben, man komme irgendwann ans Ziel.“

Er erlebt, dass sich viele Akteure hinter dieser Formel verstecken – in Politik, Verwaltung und Industrie. „Das Wort wird oft benutzt, um keine Entscheidung treffen zu müssen. Aber wer alles offenlässt, entscheidet nichts.“ Für ihn ist das mehr als eine semantische Debatte. „Technologieoffenheit ist kein Zeichen von Freiheit, sondern Ausdruck von Unsicherheit. Wenn ich nicht weiß, was ich will, verliere ich Zeit, Geld und Glaubwürdigkeit.“

Die Lösung liege nicht in mehr Vielfalt, sondern in Konsequenz. „Wir brauchen nicht Technologieoffenheit, sondern Technologieentschlossenheit. Entscheidungen müssen auf Wissen beruhen, nicht auf Angst vor Festlegung.“

„Wer alle Wege offenhält, verliert die Richtung“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs macht der ehemalige VW-Chefstratege deutlich, dass die Diskussion um Antriebsformen und Energiequellen in Europa aus seiner Sicht den Blick auf das Wesentliche verstellt. „Wir verlieren zu viel Energie in Nebenkriegsschauplätzen“, sagt er. „E-Fuels, Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe – das alles hat seinen Platz. Aber nicht im Pkw-Alltag.“

Für ihn ist die technologische Antwort im individuellen Straßenverkehr längst gefunden. „Der batterieelektrische Antrieb ist effizienter, verfügbar und bezahlbar, wenn man ihn richtig skaliert.“ Alles andere sei Ablenkung. „Wir müssen endlich aufhören, jede Minderheitstechnologie künstlich am Leben zu halten, nur weil sie im politischen Kompromiss besser klingt.“

Jost verweist auf die physikalischen Grenzen anderer Systeme. „Die Umwandlungskette von Strom zu Wasserstoff, zu synthetischem Kraftstoff und wieder zurück in Bewegung ist ineffizient. Sie ergibt nur dort Sinn, wo man keine Alternative hat – zum Beispiel im Flugverkehr oder bei großen Schiffen. Aber nicht im Pkw-Bereich.“

Er sieht hier eine strukturelle Schwäche Europas. „Während China längst entschieden hat, setzen wir auf Offenheit, Debatte und Verzögerung. Dort werden Dinge ausprobiert und skaliert, hier werden sie endlos analysiert.“ Die Folge sei ein wachsender Rückstand, nicht wegen fehlender Technologie, sondern wegen fehlender Konsequenz. „Europa muss lernen, Entscheidungen durchzuhalten – auch wenn sie unpopulär sind.“

„Vom Auto zur Mobilität – das Denken verändert sich“

Im Gespräch wird deutlich, dass Jost den Wandel der Mobilität nicht allein technisch begreift. „Wir erleben eine Zeitenwende – weg vom Produktdenken hin zum Nutzungserlebnis.“ Besitz verliere an Bedeutung, Nutzungsmodelle gewännen. „Using Fee statt Owning Fee – das wird kommen. Mobilität wird zunehmend als Dienstleistung verstanden.“

Für Hersteller bedeute das einen radikalen Kulturwandel. „In Zukunft geht es nicht mehr darum, das beste Auto zu bauen, sondern das beste Mobilitätsangebot zu schaffen. Menschen wollen Verfügbarkeit, Einfachheit und Zuverlässigkeit. Wer das bieten kann, wird erfolgreich sein.“

Jost betont, dass Marken dadurch eine völlig neue Rolle erhalten. „Eine Marke ist künftig nicht mehr nur ein Versprechen über Design oder Motorleistung. Sie wird zu einem Symbol für Vertrauen“, sagt er. In einer Welt, in der technische Unterschiede kleiner werden und Software den Takt vorgibt, werde Glaubwürdigkeit zum entscheidenden Faktor. „Kunden entscheiden, wem sie ihre Daten, ihre Zeit und ihre Sicherheit anvertrauen. Das ist die neue Währung im Wettbewerb.“

Er spricht aus Erfahrung. In seiner Zeit als Chefstratege bei Volkswagen beobachtete er, wie schwer sich große Organisationen damit tun, Vertrauen systematisch aufzubauen. „In einem Konzern mit Hunderttausenden von Mitarbeitenden verstehen vielleicht fünf wirklich, was Marke bedeutet. Viele glauben, Marke sei ein Logo oder ein Designprojekt. Aber Marke ist Verhalten.“

Dieses Verhalten müsse konsistent sein – vom Produkt über den Service bis zur Kommunikation. „Marke entsteht dort, wo Worte und Taten übereinstimmen. Sie ist nicht das, was ein Unternehmen über sich sagt, sondern das, was Menschen erleben, wenn sie mit ihm in Kontakt kommen.“

Für ihn liegt darin der Schlüssel zu langfristigem Erfolg. „Technologie kann kopiert werden, Vertrauen nicht. Das ist der eigentliche Wettbewerbsvorteil.“ Er sieht Marken als emotionale Infrastruktur einer Industrie, die sich zunehmend entmaterialisiert. „Wenn Autos zu Softwareplattformen werden, brauchen Menschen Halt in Identität und Sinn. Eine starke Marke bietet genau das.“

Europa habe in diesem Bereich Nachholbedarf. „Wir investieren Milliarden in Ingenieursleistung, aber zu wenig in Markenarbeit. Dabei ist Vertrauen der größte ökonomische Multiplikator.“ Jost zieht einen Vergleich: „In den USA und Asien kombinieren Unternehmen wie Apple, Nvidia oder Tesla Technologie und Marke zu einem System aus Leistung und Bedeutung. In Europa trennen wir beides – und verlieren damit emotionale Bindung.“

Er beschreibt die Marke als Brücke zwischen Technologie und Mensch. „Am Ende kaufen Menschen keine Kilowattstunden, keine Software und keine Plattformen. Sie kaufen Vertrauen. Das ist das, was bleibt, wenn alles andere austauschbar geworden ist.“ Jost beschreibt, wie sich Wertschöpfung verschiebt. „Die Software wird zum entscheidenden Produkt. Das Auto wird zum rollenden Update-System.“ Für ihn steht fest: „Wenn man Mobilität als Ökosystem begreift, zählt nicht mehr, wer das Lenkrad baut, sondern wer den Zugang steuert.“

Diese Entwicklung sei nicht nur ökonomisch relevant, sondern auch gesellschaftlich. „Mobilität wird demokratischer. Sie wird geteilt, gebucht, personalisiert. Das klassische Modell des Besitzes verliert seine Dominanz.“

„Führung bedeutet, Entscheidungen zu treffen – nicht sie zu vermeiden“

Seine Kritik an der politischen Ebene bleibt deutlich, aber sachlich formuliert. Jost vermeidet große Gesten, doch seine Worte treffen präzise. „Politik muss wieder Zukunft gestalten, nicht Angst verwalten“, sagt er. „Wir haben uns daran gewöhnt, Entscheidungen zu vertagen, bis sie sich von selbst erledigen. Das ist keine Strategie, das ist Stillstand.“

Er sieht in der politischen Entscheidungsarchitektur dieselben strukturellen Schwächen, die er aus Konzernen kennt. „In beiden Fällen fehlt oft der Mut, eine Richtung vorzugeben. Man diskutiert Prozesse, aber niemand definiert Ziele.“ Dieses Verhalten sei symptomatisch für eine Zeit, in der Verantwortung immer kleinteiliger werde. „Wir haben uns an Kompromisse gewöhnt, weil sie bequemer sind als Entscheidungen.“

Jost beschreibt, wie er während seiner Zeit als Chefstratege bei Volkswagen bewusst eine andere Kultur etablieren wollte. „Jede Entscheidung musste zur Strategie passen. Wer Geld wollte, musste belegen, wie sein Projekt dazu beiträgt. Das war nicht immer beliebt, aber es hat Klarheit geschaffen.“ Für ihn ist diese Verbindung von Strategie und Handlung das Fundament jeder erfolgreichen Organisation. „Wenn man weiß, wofür man steht, fällt es leichter, auch unpopuläre Maßnahmen zu vertreten.“

Diese Denkweise, so Jost, fehle in der politischen Praxis zunehmend. „Politik orientiert sich an Legislaturperioden, nicht an Lebensrealitäten. Nach einer Wahl braucht es ein Jahr, um sich einzuarbeiten, dann bleiben zwei Jahre, um etwas zu bewegen. Im letzten Jahr beginnt schon der nächste Wahlkampf. Wie soll in einem solchen Rhythmus Zukunft entstehen?“

Führung, so Jost, bedeute nicht, es allen recht zu machen, sondern Verantwortung zu übernehmen. Politisch, wie auch in der Industrie. „Führung heißt, auch dann zu handeln, wenn es Gegenwind gibt. Wenn ich weiß, was richtig ist, muss ich es tun – auch wenn es unbequem ist.“ Er betont, dass Fehler Teil dieses Prozesses seien. „Fehler kann man korrigieren. Untätigkeit nicht.“

Zum Ende des Gesprächs bringt Jost es auf den Punkt. „Technologieoffenheit war nie das Problem. Unser Problem ist Mutlosigkeit“, sagt er. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Technologieoffenheit ist strategiefrei. Strategie bedeutet, sich festzulegen – und dazu fehlt oft der Mut.“

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Sebastian Henßler

Sebastian Henßler

Sebastian Henßler hat Elektroauto-News.net im Juni 2016 übernommen und veröffentlicht seitdem interessante Nachrichten und Hintergrundberichte rund um die Elektromobilität. Vor allem stehen hierbei batterieelektrische PKW im Fokus, aber auch andere alternative Antriebe werden betrachtet.

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