Fahrbericht Mercedes Drive Pilot 95: Hände weg

Cover Image for Fahrbericht Mercedes Drive Pilot 95: Hände weg
Copyright ©

Press-Inform

Wolfgang Gomoll
Wolfgang Gomoll
  —  Lesedauer 6 min

Spiderman ist gerade voll in Fahrt und vermöbelt seinen Erzfeind Mysterio nach allen Regeln der Kunst. Wir genießen den Surround-Sound, das gestochen scharfe Bild und das Popcorn, es läuft Spider-Man: Far From Home. Nichts Besonderes. Ein Marvel-Film, den man schon gesehen hat. Aber wir sitzen am Steuer eines Mercedes EQS und brettern mit 90 Sachen über die Autobahn. Das Kommando allerdings haben nicht wir, sondern der Mercedes Drive Pilot 95.

Der Name ist Programm: Jetzt können EQS und S-Klasse also nicht mehr nur 60 km/h im Level 3 autonom fahren, sondern bis 95 km/h. Klingt nach wenig, ist aber ein himmelweiter Unterschied. So kann der Robo-Benz auch außerhalb geschlossener Ortschaften auf Autobahnen beziehungsweise baulich getrennten Fahrbahnen agieren. Damit sind auch längere Strecken machbar, ohne dass der Fahrer sein Hauptaugenmerk auf den Verkehr lenkt. Zur Erinnerung: Automatisiertes Fahren Level 3 bedeutet, dass das Auto für eine gewisse Zeit und auf geeigneten Strecken selbstständig das Kommando übernehmen kann.

Allerdings ist das autonome Fahren deutlich komplexer als noch vor wenigen Jahren angenommen. Das von einigen Automobilmanagern ausgegebene Ziel, im Jahr 2021 bereits auf Level 4 autonom zu fahren, erwies sich schnell als illusorisch. Mercedes ist vorsichtig geworden und gibt Ende der Dekade als Ziel für Tempo 130 im Level 3 an. Das ergibt Sinn. Nicht auszudenken, was in hierzulande los wäre, wenn ein autonomes Auto eines deutschen Herstellers einen Unfall verursachen würde. In den USA ist genau das bereits passiert. Zu diffizil ist die Technik und vor allem die dazugehörige Software. Schließlich muss das Auto es dem Menschen gleichtun und in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung treffen.

Es liegt auf der Hand, dass der Mensch beim autonomen Fahren nicht zum Beta-Tester werden darf. Weder im noch außerhalb des Autos. Da ist es nur logisch, dass es bei den Robo-Autos nicht mit einem riesen Satz direkt zu Level 4 (Auto kann auf speziellen Strecken, wie zum Beispiel Autobahnen oder Parkhäusern selbsttätig fahren. Auch ohne Menschen an Bord) geben kann. Selbst Elon Musk musste einsehen, dass es ohne Lidar-Sensoren nicht geht. Diese sind zwar teuer, bieten aber Vorteile wie eine genaue digitale 3-D-Darstellung der Umgebung und eine ziemlich große Reichweite.

„Jeder Sensor hat Stärken und Schwächen“, erklärt Taner Kandemir, der bei Mercedes für das autonome Fahren verantwortlich ist. Deshalb sind die robusten Radarsensoren, die auch bei Nebel und Schmutz funktionieren, genauso wichtig wie die Antenne auf dem Dach, die mit Satelliten in 250 Kilometern Höhe und den extrem genauen Karten des Navigationssystems hilft, die Position des Autos auf den Zentimeter genau zu bestimmen. Basis für den Drive Pilot sind aktuelle Autos, die mit mehr als 40 Assistenzsystemen an Bord autonome Fahrmanöver des Levels 2+ ausführen können. Deshalb beherrscht der EQS, in dem wir hinter dem Lenkrad sitzen, auch einen selbsttätigen Spurwechsel, solange die Hände am Volant bleiben. Das darf der Robo-Benz des Levels 3 normalerweise nicht. Ab Anfang des nächsten Jahres werden fabrikneue S-Klassen und EQS-Modelle mit dem Drive Pilot 95 ausgeliefert. Bestehende Autos mit Drive Pilot 60 erhalten ein kostenloses Update.

Sicherheit geht vor: Mercedes und der Gesetzgeber setzen noch enge Grenzen

Damit können die Autos nun auch auf der Autobahn ohne menschliches Zutun fahren. Allerdings setzen Mercedes und der Gesetzgeber noch enge Grenzen. Die Sicherheit geht vor. Für den Drive Pilot gilt striktes Rechtsfahrgebot. Das heißt: Die rechte Spur der Straße mit baulich getrennten Fahrbahnen ist das Habitat des Mercedes mit aktivem Drive Pilot 95. Aber eben auf der Autobahn und schneller als bisher.

Drive-Pilot-95-Mercedes-EQS
Mit einem Vorausfahrer kann Drive Pilot auf der rechten Spur die Fahraufgabe auf deutschen Autobahnen bis zu 95 km/h übernehmen. / Press-Inform

Im Grunde ist dieser Drive Pilot eine Weiterentwicklung des Stauassistenten. Wir klemmen uns im EQS hinter einen Lkw als Führungsfahrzeug. Um es dem System einfacher zu machen, haben wir den adaptiven Tempomaten samt den autonomen Fahrfunktionen des Level 2+ aktiviert. Laut Mercedes soll die Aktivierung auch ohne diese Vorkonditionierung und bis Tempo 100 funktionieren, das Auto bremst dann automatisch auf Tempo 95 ab.

Das Prozedere der Übergabe von Mensch zur Maschine ist vom Drive-Pilot-Vorgänger bekannt: Der Robo-Benz signalisiert mit pulsierenden weißen LEDs links und rechts im Lenkradkranz Bereitschaft. Wir drücken auf die blinkenden Knöpfe, nehmen die Hände vom Lenkrad, schnappen uns das Popcorn und bewundern die menschliche Spinne. Bei strahlendem Sonnenschein erfüllt das System seine Aufgabe ziemlich gut und lässt sich auch von einscherenden Autos nicht aus der Ruhe bringen. Vor allem, wenn die Bedingungen perfekt sind. Das heißt Laster oder anderer Pkw vorne, Markierungen eindeutig. Das geht mehrere Minuten gut, aber im Stadtgebiet Berlins ist das automatisierte Glück bisweilen nur von kurzer Dauer: Bei Baustellen und rechte Fahrbahnen, die zu einer Abbiegespur werden, verabschiedet sich der Autopilot und der Mensch muss wieder das Steuer übernehmen.

Drive-Pilot-95-Mercedes-Spurwechsel
Rot signalisiert der Fahrerin oder dem Fahrer, dass sie oder er agieren muss. Auf Knopfdruck übernimmt die Fahrerin oder der Fahrer wieder die dynamische Fahraufgabe / Press-Inform

Gleiches gilt, wenn sich Einsatzfahrzeuge von hinten nähern. Das ist zwar von Mercedes so gewollt, weil der Mensch in solchen Situationen immer noch die besten Entscheidungen trifft. Zeigt aber, wie komplex das autonome Fahren ist und wie weit der Weg zum echten Robo-Taxi noch ist. Vor allem nervt es, wenn Spiderman dem Endgegner gerade den Garaus macht. Wie eng die regulatorischen Leitplanken gesetzt sind, erkennt man, wenn die Blaulichter auf den entgegengesetzten Fahrbahnen blinken. Sobald man an denen vorbei ist, erkennt die Heckkamera auch diese und fordert den Fahrer auf, das Ruder in die Hand zu nehmen.

Wenn es um das Bilden von Rettungsgassen geht, steht der Mercedes wieder Gewehr bei Fuß. Interessant wird es, wenn der Mensch der Übernahmeaufforderung der Maschine nicht nachkommt. Nach einer Reihe von haptischen und akustischen Signalen (Gurtstraffer rüttelt am Oberkörper) ohne eine Reaktion des Menschen, greift der Drive Pilot wieder ein und dirigiert das Vehikel auf die Standspur. Ein Spurwechsel ist dann erlaubt. Eine sinnvolle Weiterentwicklung zum bloßen Bremsen bis zum Stillstand, der Tempo-60-Version.

Bei Mercedes ist man mit dem Erreichten zufrieden und hat das System dem KBA und dem Wirtschafts- und Verkehrsministerium präsentiert. „Wir haben derzeit das schnellste Auto“, strahlt Taner Kandemir. Wie es aussieht, will Tesla sein Robotaxi am 10. Oktober vorstellen. Wahrscheinlich mit viel Tamtam und großen Worten. Alles andere würde Elon Musk nicht gerecht. Fakt ist: Mercedes liefert jetzt schon. Und das auf deutschen Autobahnen.

worthy pixel img
Wolfgang Gomoll

Wolfgang Gomoll

Wolfgang Gomoll beschäftigt sich mit dem Thema Elektromobilität und Elektroautos und verfasst für press:inform spannende Einblicke aus der E-Szene. Auf Elektroauto-News.net teilt er diese mit uns. Teils exklusiv!

Artikel teilen:

Schreib einen Kommentar und misch dich ein! 🚗⚡👇


Hiker:

Natürlich fahren bereits Teslas in den USA teilautonom herum. Und wenn das mit der weitreichenden Sicht stimmt, warum darf dann das ach so unglaublich tolle Mercedes System bei schlechter Sicht nicht eingeschaltet werden? Übrigens hat der Fahrassystent eines EQS bei einem Vergleichstest mit einem Tesla und einem Nio mit Abstand am schlechtesten abgeschnitten. Tesla war dabei sogar Testsieger. Auch ohne Radar und Lidar übrigens. Das zu der dreisten Behauptung Tesla habe eingesehen dass es ohne Lidar nicht funktioniere. Keine Ahnung wie dieser Kolumnist hier auf solche Aussagen kommt. Vermutlich von Mercedes gekauft.

Philipp:

Warum nicht? Man KANN es, wenn man es gerade braucht. Und es geht ja nicht um Stunden, sondern mal ein paar Minuten:

Du hast ein Telefongespräch und du willst nun in ein paar Dokumenten nachsehen. Dann fährst du auf die rechte Spur/hinter einen LKW und schon ist alles automatisch und kümmerst dich nur noch um das Gespräch – ohne dass man bis zum nächsten Parkplatz fahren muss.

Ich sehe das als sehr sinnvoll an.

Natürlich nicht zum hypermilen oder YT schauen.

Philipp:

Dann hat also Elon schon irgendwo auf der Welt fahrende autonome Fahrzeuge? Irgendwo? Nur eine einzige Stadt? Ein Röhre vielleicht? Ich glaube, selbst auf dem Parkplatz darf ein Tesla nicht allein rumfahren. Show me the facts!

In der EU wird es schon einmal nichts, weil Visual Only nicht für weitreichende schlechte Sicht funktioniert. So die gesetzliche Regelung. Aber was will man als Elon schon mit Gesetzen, wenn man X hat. Er selbst steht eh außerhalb des Gesetzes, denkt er.

Peter:

Und du meinst ernsthaft das jemand mit einem EQS auf der Autobahn mehrere Stunden hinter nem LKW herfährt nur um Dokumente zu lesen ?

Sven:

„Selbst Elon Musk musste einsehen, dass es ohne Lidar-Sensoren nicht geht“ Diese Aussage entbehrt jeglicher Grundlage und ist reines Wunschdenken des Autors.

Autojoe:

Wird sich so schell bei uns nicht realisieren lassen, auf Autobanhen gibt es nebenbei noch das leidige Problem das wir ein spezielles linke Spur Fahrerland sind und da gibt es schon einmal große Probleme im Gesgensatz zu den USA.

Philipp:

Man kann in Ruhe seine Emails, Chats, Dokumente, Handbücher, Vertragstexte etc. lesen und damit Zeit = Geld sparen. Da sind 6000 € für Menschen mit einem Stundenlohn, die sich einen EQS leisten können, ein Klacks.

6000 € sind es auch „nur“ bei einem EQS, der schon im Standard sehr viele Sensoren hat. In einem ID.3 wäre z.B. der Aufpreis deutlich teurer.

Ediwi:

Halt, stop,
„Nicht auszudenken, was hierzulande los wäre, wenn ein autonomes Auto eines deutschen Herstellers einen Unfall verursachen würde. In den USA ist genau das bereits passiert.“
Wurde dieser Unfall nicht durch ein anderes Fahrzeug verursacht und das Opfer vor das autonom fahrende Auto geschleudert das dann nicht mehr rechtzeitig hat stoppen können. War es nicht so, daß der Unfallverursacher Fahrerflucht begangen hat?

Ansonsten sehe auch ich autonomes Fahren mit einer deutlichen Skepsis hinsichtlich der Durchfürbarkeit.

René H.:

Jenseits von Staus ist das de facto ein LKW-Folge-Assistent. Es benötigt ein „geeignetes“ Fahrzeug in der Fahrspur, den es folgen kann. Außerhalb von Baustellen und nicht nachts, nicht bei Regen, nicht in Tunneln usw. Nur für S-Klasse und EQS, Kostenpunkt 6.000 Euro für das Paket.
Damit ist klar, dass es sich nicht verkauft.

Ähnliche Artikel

Cover Image for So fährt sich das Concept AMG GT XX mit 960 kW Ladeleistung

So fährt sich das Concept AMG GT XX mit 960 kW Ladeleistung

Sebastian Henßler  —  

Wir sind den Concept AMG GT XX exklusiv gefahren: Erste Eindrücke von 1000 kW Power, 600 kW Rekuperation und 960 kW Ladeleistung im Extremtest.

Cover Image for VDA: „Das Auto bleibt die tragende Säule der IAA Mobility“

VDA: „Das Auto bleibt die tragende Säule der IAA Mobility“

Sebastian Henßler  —  

Exklusiv: VDA-Chef Mindel erklärt, warum die IAA Mobility heute mehr ist als eine Autoshow – und welche Rolle München im globalen Dialog spielt.

Cover Image for Messe München: Wächst die IAA der Stadt schon über den Kopf?

Messe München: Wächst die IAA der Stadt schon über den Kopf?

Sebastian Henßler  —  

Exklusiv: Christian Vorländer erklärt, warum die Messe München die IAA langfristig halten will – und welche Strategie dahintersteckt.

Cover Image for Schäfer, Mercedes: China fehlt Formel-1-Technologietransfer

Schäfer, Mercedes: China fehlt Formel-1-Technologietransfer

Sebastian Henßler  —  

Die Rekordfahrt in Süditalien war für Mercedes-AMG mehr als Show. Schäfer sieht darin den Beweis, dass Formel-1-Technik den Unterschied zu China ausmacht.

Cover Image for Deep Dive Concept AMG GT XX – Wir waren in Nardò dabei

Deep Dive Concept AMG GT XX – Wir waren in Nardò dabei

Sebastian Henßler  —  

EAN war bei der Rekordjagd in Nardò vor Ort: Das Concept AMG GT XX setzte 25 Rekorde, wir durften die Technik, das Team und die Abläufe exklusiv kennenlernen.

Cover Image for Zeekr: „Sind ein junges Unternehmen mit europäischer Seele“

Zeekr: „Sind ein junges Unternehmen mit europäischer Seele“

Sebastian Henßler  —  

Zeekr baut Europa zum Kernmarkt aus – mit lokaler Entwicklung, eigenen Teams in Göteborg und Amsterdam sowie klarer Ausrichtung auf Substanz.