Es riecht nach feuchtem Asphalt, als die Formel-E-Boliden auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof Runde um Runde durch die Kurven preschen. Regen hat die 2,345 km lange Betonpiste mit ihren 15 Kurven in eine fahrerische Herausforderung verwandelt – ein Szenario, das sich am vergangenen Wochenende beim Berlin E-Prix besonders eindrucksvoll zeigte. Und damit auch in ein Testfeld extremer Art für ein Bauteil, das im Alltag oft unterschätzt wird: den Reifen. Für Hankook ist genau das der Reiz. Denn wer verstehen will, wie Reifen für Elektroautos künftig leiser, langlebiger und effizienter werden sollen, muss genau hier beginnen – zwischen Tribünen, Boxen und aufgeriebenem Beton.
„Wir fahren hier immer am Limit“, sagt Manfred Sandbichler, Hankook Senior Director Motorsport Europa. „Und das ist für unsere Entwickler ein enorm guter Indikator. Wo sonst kann man so testen wie auf der Rennstrecke?“ Tatsächlich ist jede Runde auf dem Berliner Tempelhofer Kurs eine Hochleistungsprüfung: wechselhafte Witterung, aggressive Fahrmanöver, extreme Lastwechsel. Die Anforderungen an die Reifen könnten kaum härter sein – und genau darin liegt der Nutzen für die Serienentwicklung.
Denn was hier unter Rennbedingungen besteht, hat beste Chancen, auch im Alltag zu funktionieren. Sandbichler spricht von einem „kondensierten Entwicklungsraum“: Während Straßentests Monate in Anspruch nehmen können, liefert ein einziges Rennwochenende eine enorme Menge an Datenpunkten – zu Grip, Temperaturverhalten, Abrieb oder strukturellen Belastungen. „Wenn 22 Autos gleichzeitig unter Volllast unterwegs sind, bekommen wir eine Bandbreite an Informationen, die sonst nur schwer zu simulieren ist“, betont er.
Von der Rennstrecke in den Alltag
Dabei geht es längst nicht nur um Datensätze – sondern um das Verhalten des Reifens in Grenzbereichen, wie sie auf öffentlichen Straßen im Idealfall nie erreicht werden. Und genau deshalb ist die Rennstrecke so wertvoll: Sie offenbart Schwächen, lange bevor sie im Alltag kritisch werden könnten. Das Ziel: Hochtechnologie, die in einem Moment im Grenzbereich zwischen Aquaplaning und maximaler Seitenführung steckt – und im nächsten auf der Autobahn bei 130 km/h für Effizienz und Komfort sorgen soll. Es ist ein Spagat, der ohne die Erfahrung aus dem Motorsport kaum gelingen würde.
Was auf den ersten Blick wie zwei völlig unterschiedliche Welten wirkt – Rennstrecke und Straßenverkehr – ist in Wahrheit eng miteinander verknüpft. „Die Strecke zeigt uns, was mit dem Material möglich ist“, sagt Sandbichler. „Wir fahren dort am oberen Limit dessen, was ein Reifen leisten kann – und genau aus diesen Extremerfahrungen ziehen wir Rückschlüsse, wie wir ihn für den Alltag robuster, leiser und effizienter machen können“. Auf der Straße zählt nicht jede Zehntelsekunde, aber eben doch jeder Dezibel, jedes Watt an Energieverlust, jede Spur mehr Laufleistung. Der Reifen muss nicht alles perfekt können – aber alles gut genug. Und zwar dauerhaft.

Diese Vielseitigkeit zu entwickeln, ist gerade bei E-Auto-Reifen zur Königsdisziplin geworden. Die Fahrzeuge bringen mehr Gewicht auf die Straße, liefern ihr volles Drehmoment aus dem Stand und setzen das Fahrwerk – und damit auch den Reifen – bei jedem Anfahren unter maximalen Zug. „Wenn der Reifen nicht funktioniert, hilft dir der beste Antriebsstrang nichts“, bringt es James Taylor vom Team Cupra auf den Punkt. „Das ist die einzige Kontaktfläche zur Straße – da muss einfach alles stimmen“.
Dabei steigen die Anforderungen kontinuierlich. Elektro-SUVs mit über zwei Tonnen Gewicht, Sportmodelle mit 700 Nm Drehmoment, hohe Reichweitenerwartungen und der Wunsch nach Geräuscharmut schließen sich nicht gegenseitig aus – verlangen aber eine komplett neue Denkweise in der Entwicklung. „Wir haben diese Zielkonflikte jeden Tag auf dem Tisch“, bestätigt Sandbichler. „Gerade weil wir in der Formel E mit nur einem Reifentyp für alle Bedingungen fahren – ob drei Grad und Nässe in Mexiko oder 40 Grad Hitze in Jakarta – sind wir gezwungen, Lösungen zu finden, die möglichst universell funktionieren. Und genau das macht sie auch für den Straßenverkehr interessant“.
Hankooks Subjektiv-Testfahrerin Sabina Park über das Bauchgefühl am Lenkrad
Doch wie übersetzt man diese komplexen Anforderungen in ein rundes Stück Gummi, das unter allen Bedingungen verlässlich funktioniert? Die Antwort liegt im Zusammenspiel aus Simulation, Labortechnik und menschlicher Intuition. Genau hier kommt Sabina Park ins Spiel. Als Subjektiv-Testfahrerin bei Hankook testet sie Reifenprototypen lange bevor diese in die Serienproduktion gehen: auf abgesperrten Testgeländen, Rennstrecken wie der in Tempelhof oder unter kontrollierten Bedingungen im Alltag. Ihr Job: spüren, was Daten allein nicht sagen.

„Performance und Effizienz – das sind zwei Hasen, die in verschiedene Richtungen laufen“, erklärt sie. „Ich brauche Grip für Sicherheit und Kontrolle, aber gleichzeitig niedrigen Rollwiderstand für mehr Reichweite. Und dann kommen noch Komfort, Nasshaftung und Langlebigkeit dazu.“ Jeder dieser Parameter zieht an einem anderen Ende der Entwicklung – und Park ist es, die diesen Zielkonflikt in der Praxis greifbar macht.
Der Prozess beginnt oft mit einem klaren Fokus: maximale Haftung. Denn nur wenn der Grip stimmt, lassen sich andere Eigenschaften wie Laufleistung, Geräuschverhalten oder Effizienz sinnvoll optimieren. „Ich brauche am Anfang mehr Grip, um mir Spielräume in anderen Bereichen zu erarbeiten“, sagt sie. Um das zu erreichen, testet sie verschiedene Gummimischungen, neue Karkassensteifigkeiten und veränderte Laufflächendesigns, immer im Dialog mit den Entwicklungsabteilungen. Was sich auf der Rennstrecke bewährt, wird anschließend für die Serienanwendung feinjustiert.
„Am Anfang waren die Reifen zu weich für schwere Elektroautos“, erinnert sie sich an frühe Tests mit dem Tesla Model S. „Das Gewicht und das Drehmoment haben alles überfordert. Also haben wir neue Steifigkeiten entwickelt, komplett neue Konstruktionen ausprobiert.“ Oft geht es dabei um minimale Unterschiede, aber mit maximaler Wirkung. Der Übergang von einem zu aggressiven Übersteuern zu einem gut beherrschbaren Fahrverhalten kann an wenigen Prozentpunkten Materialmischung hängen.
Hankook über die Bedeutung von subjektiven Eindrücken und objektiven Daten
Ihre Rückmeldung fließt systematisch in die Entwicklung zurück. Hankook arbeitet mit standardisierten Bewertungsskalen, bei denen etwa Lenkpräzision, Rückstellkräfte, Stabilität in Kurven oder das Verhalten bei Aquaplaning mit Noten versehen werden. „Ich bewerte das Verhalten bei Lenkung, Beschleunigung, Bremsen – und wie vorhersehbar das Auto dabei bleibt“, so Park. „Denn das ist letztlich auch ein Sicherheitsaspekt: Das Auto muss tun, was ich erwarte.“
Gleichzeitig fließen auch objektive Messdaten ein: über GPS, Lenkwinkelsensoren oder Beschleunigungsmesser. Doch Park macht deutlich: „Trotz aller Sensorik – das subjektive Gefühl des Menschen am Steuer lässt sich nicht ersetzen.“ Gerade im Grenzbereich, bei wechselnden Bedingungen oder bei der Abstimmung auf bestimmte Fahrzeugtypen sei das Erfahrungswissen der Testfahrer:innen entscheidend. „Am Ende bauen wir Reifen nicht für Maschinen, sondern für Menschen“, bestätigt auch Manfred Sandbichler. „Und genau deshalb bleibt der Mensch im Loop, gerade bei E-Auto-Reifen, die so viel mehr können müssen als früher.“
Die Erkenntnisse aus diesen Tests landen nicht nur in internen Berichten – sie prägen direkt das, was später unter dem Namen iON FlexClimate oder i Sound Absorber auf die Straße kommt. Der Wissenstransfer von der Rennstrecke in die Serie ist bei Hankook keine Marketingfloskel, sondern gelebter Prozess. „Was wir an der Strecke unter Extrembedingungen lernen, testen wir in der Serie in abgeschwächter, aber relevanter Form weiter“, erklärt Sandbichler. Besonders interessant seien dabei die extremen Temperaturunterschiede, die unterschiedlichen Fahrbahnbeläge und das Verhalten der Reifen unter dauerhafter Belastung.
Ein Beispiel: das Thema Geräuschkomfort. E-Auto-Fahrer nehmen Reifengeräusche aufgrund des fehlenden Verbrennergeräuschs viel stärker wahr. Kleinste Resonanzen im Hohlraum des Reifens übertragen sich spürbar in den Innenraum. Um diesem Effekt entgegenzuwirken, hat Hankook einen sogenannten Soundabsorber in die iON-Reifen integriert: einen Filz-Schaum, der während der Produktion auf die Innenseite des Reifens geklebt wird. „Der filtert genau jene Frequenzen heraus, die sonst als unangenehmes Wummern am Lenkrad oder im Innenraum zu hören wären“, so Sandbichler. Das Ergebnis: ein spürbar leiseres und komfortableres Fahrerlebnis.
Aber auch beim Material selbst werden Erfahrungen aus der Formel E übernommen, wenn auch in abgewandelter Form. Der Einheitsreifen der Elektro-Rennserie muss mit nur einem Profil alle klimatischen Bedingungen meistern. Diese Vielseitigkeit sei zwar für den Alltag in dieser Form nicht übertragbar, sagt Sandbichler, „aber einzelne Komponenten und Mischungen lassen sich adaptieren, um beispielsweise die Balance zwischen Nasshaftung und Effizienz zu verbessern“. Dabei hilft, dass die Bedingungen in der Formel E in kurzer Zeit einen maximalen Erkenntnisgewinn ermöglichen: 22 Fahrzeuge, hunderte Runden, verschiedenste Belastungsszenarien – komprimiert auf ein Rennwochenende.
Alles im Austausch – von der Strecke ins Labor
Gleichzeitig findet ein reger Austausch zwischen den Teams der Rennstrecke und jenen der Serienentwicklung statt, wenn auch getrennt organisiert. „Die Parameter sind unterschiedlich, aber die Daten fließen zusammen“, erklärt Sandbichler. „Was wir im Labor oder in Simulationen vorbereiten, wird in der Serie auf Herz und Nieren getestet, und das Feedback aus der Praxis fließt zurück in die nächste Reifengeneration.“ Auch KI-gestützte Entwicklungsprozesse kommen zunehmend zum Einsatz. Sie helfen, besonders ungeeignete Mischungen oder Konstruktionen bereits in der Vorentwicklung auszusortieren. „So sparen wir Zeit, Geld – und können uns auf die wirklich interessanten Ansätze konzentrieren“, ergänzt Park gegenüber EAN.
Am Ende bleibt der Reifen ein Bauteil, das trotz aller Technologisierung stark vom Menschen abhängt. Er muss nicht nur physikalischen Vorgaben genügen, sondern Vertrauen vermitteln – in der Kurve, bei Nässe, bei einer Vollbremsung. Der Weg von der Start-Ziel-Geraden in Tempelhof bis zur alltäglichen Autobahnausfahrt ist daher länger, als es auf den ersten Blick scheint. Doch je mehr Know-how auf der Strecke gesammelt wird, desto runder läuft er: der Reifen der Zukunft.
Disclaimer: Hankook hat zum Austausch über deren Hankook iON Reifen zum Berlin E-Prix 2025 eingeladen und hierfür die Reisekosten übernommen. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf unsere hier geschriebene ehrliche Meinung.