Verkehrssektor: Kilometerweit am Klimaziel vorbei

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Michael Neißendorfer
Michael Neißendorfer
  —  Lesedauer 7 min

2022 ist die zum Erreichen der deutschen Klimaziele erforderliche Reduktion der CO2-Emissionen ausgeblieben: Deutschlands Treibhausgasausstoß stagnierte bei rund 761 Millionen Tonnen CO2. Das zeigen aktuelle Berechnungen von Agora Energiewende, die der Thinktank in seiner Auswertung des Energiejahres 2022 veröffentlicht hat. Demnach lag die Emissionsminderung 2022 im Vergleich zum Referenzjahr 1990 bei knapp 39 Prozent und damit zum zweiten Mal hinter dem 2020 erreichten Klimaziel von 40 Prozent. „Die CO2-Emissionen stagnieren auf hohem Niveau, und das trotz eines deutlich niedrigeren Energieverbrauchs von Haushalten und Industrie. Das ist ein Alarmsignal im Hinblick auf die Klimaziele“, sagt Simon Müller, Direktor Deutschland bei Agora Energiewende.

Laut der Agora-Auswertung ist der Energieverbrauch in Deutschland um 4,7 Prozent beziehungsweise 162 Terawattstunden gegenüber 2021 zurückgegangen, unter anderem infolge der massiven Preissteigerungen bei Erdgas und Strom sowie milder Witterung. Der Verbrauch sank unter das Niveau im Corona-Jahr 2020 und damit auf den tiefsten Stand im wiedervereinigten Deutschland. Der verstärkte Einsatz von Kohle und Öl machte die Emissionsminderungen durch Energieeinsparungen jedoch zunichte: Das Reduktionsziel für 2022 von 756 Millionen Tonnen CO2, das sich aus der Summe der CO2-Vorgaben für die Bereiche Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie, Land- und Abfallwirtschaft ergibt, wurde um 5 Millionen Tonnen knapp verfehlt. Und das, obwohl der Anteil der Erneuerbaren Energien am Stromverbrauch witterungsbedingt einen neuen Höchstwert von 46 Prozent erreichte.

2022 sind die Klimaziele aufgrund kurzfristiger Maßnahmen für die Energiesicherheit ins Hintertreffen geraten. Auch das im Koalitionsvertrag für 2022 angekündigte Klimaschutzsofortprogramm ist die Regierung schuldig geblieben“, sagt Simon Müller. Dabei ist die Zustimmung zur Energiewende in der Bevölkerung deutlich gewachsen. Haushalte und Unternehmen wollen zu klimaneutralen Technologien wechseln und die Nachfrage nach Solaranlagen oder Wärmepumpen ist in die Höhe geschossen. „2023 muss die Regierung die Trendwende schaffen: raus aus den fossilen Energien und konsequent rein in die Erneuerbaren. Das hilft dem Klima, senkt die Preise und macht uns unabhängig von fossilen Energieimporten“, betont Müller.

Gebäude und Verkehr bleiben weit hinter Klimazielen zurück

Die CO2-Emissionen aus der Energiewirtschaft stiegen laut Agora-Abschätzung 2022 erstmals wieder an und betrugen zum Jahresende 255 Millionen Tonnen CO2 (plus 8 Millionen Tonnen im Vergleich zu 2021). Haupttreiber war die höhere Verstromung von Kohle aufgrund stark gestiegener Erdgaspreise. In Summe wurde damit das im Klimaschutzgesetz vorgeschriebene Reduktionsziel von 257 Millionen Tonnen CO2 nur knapp eingehalten.

Der Verkehrs- und der Gebäudebereich verpassten hingegen erneut ihre Klimaziele: Der Gebäudebereich überzog mit 113 Millionen Tonnen CO2 das Sektorziel um 5 Millionen Tonnen. Der Einsparerfolg von minus 16 Prozent beim Erdgasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr führte zwar zu einem Emissionsrückgang von 7 Millionen Tonnen CO2 gegenüber 2021, konnte aber die jahrelangen Versäumnisse bei der Wärmewende nicht ausgleichen.

Im Verkehr lag der CO2-Ausstoß mit 150 Millionen Tonnen CO2 deutlich über dem erlaubten Wert von 139 Millionen Tonnen CO2, das Ziel wurde um 11 Millionen Tonnen überschritten. Die Gründe für die Zielverfehlung seien unter anderem das nach dem Corona-Rückgang wieder angestiegene Verkehrsaufkommen und fehlende politische Maßnahmen zur Emissionsreduktion.

Die Industrie verzeichnete infolge von Spar- und Effizienzmaßnahmen sowie Produktionseinbußen mit 173 Millionen Tonnen CO2 einen leichten Emissionsrückgang um 8 Millionen Tonnen. Trotz verstärktem Einsatz von Kohle und Öl als Ersatz für Erdgas hielt der Industriesektor damit das Klimaziel ein. Doch auch hier fehlen bislang die strukturellen Maßnahmen, um auf Kurs für das 2030-Klimaziel zu kommen.

Erneuerbare-Energien-Anteil steigt auf Rekordhoch

Der Agora-Auswertung zufolge produzierten Erneuerbare Energien im Jahr 2022 mit 248 Terawattstunden so viel Strom wie nie zuvor – ein Plus von 22 Terawattstunden beziehungsweise 10 Prozent gegenüber 2021. Dabei blieb die Windkraft mit 126 Terawattstunden größter Stromlieferant unter den Erneuerbaren. Gleichzeitig stieg die Stromproduktion aus Solaranlagen mit 60 Terawattstunden um 23 Prozent gegenüber 2021 – dank eines überdurchschnittlich guten Sonnenjahrs und eines Zubaus in Höhe von 7,2 Gigawatt. Insgesamt betrug die Erneuerbaren-Energien-Kapazität am Jahresende 148 Gigawatt und damit 9,6 Gigawatt mehr als 2021.

Dennoch warnt Agora-Experte Müller: „Das Rekordjahr für die Erneuerbaren Energien ist wetterbedingt und damit kein struktureller Beitrag zum Klimaschutz.“ Deutschland steuere auf eine massive Lücke beim Erneuerbaren-Ausbau zu. „Insbesondere die Ausbau-Krise bei der Windenergie dauert an“, betont Müller. Hier kamen 2022 nur rund 2 Gigawatt hinzu. Insgesamt waren 2022 neun von zehn Ausschreibungen für Erneuerbare Energien unterzeichnet. „Die Regierung muss jetzt entschieden und schnell nachbessern, denn wir brauchen ab 2023 eine Verdreifachung beim Zubau, um das 2030-Erneuerbaren-Ziel zu erreichen“, sagt Müller. In den kommenden acht Jahren muss hierfür der Zubau bei Solar auf 19 Gigawatt jährlich, bei Windkraft an Land auf 7 Gigawatt und bei Windkraft auf See auf knapp 3 Gigawatt im Jahresschnitt ansteigen.

Kohleverstromung legt infolge von Rekordpreisen für Erdgas deutlich zu

Die konventionelle Stromerzeugung sank 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 9 Prozent. Gründe waren der geplante Rückgang bei der Kernenergie, ein sinkender Stromverbrauch und das Plus bei den Erneuerbaren, das den leichten Exportanstieg übertraf. Deutschland exportierte im vergangenen Jahr 38 Prozent mehr Strom nach Frankreich als im Vorjahr, vor allem aufgrund des Ausfalls von rund einem Drittel der französischen Kernkrafterzeugung seit April und dem Anstieg der vergleichsweise günstigeren Stromproduktion aus Kohle anstelle von Erdgas.

Insgesamt erzeugten konventionelle Kraftwerke 302 Terawattstunden Strom. Davon trugen Braunkohlekraftwerke mit 109 Terawattstunden den größten Teil bei (plus 7 Prozent im Vergleich zu 2021). Aus Steinkohlekraftwerken kam 20 Prozent mehr Strom, sodass sie auf 60 Terawattstunden kamen. Dahingegen sank die Erzeugung aus Gaskraftwerken um 16 Prozent auf 75 Terawattstunden. Nachdem Ende 2021 4 Gigawatt installierte Kernkraftleistung planmäßig vom Netz ging, lieferten Kernkraftwerke im vergangenen Jahr 33 Terawattstunden Strom (minus 50 Prozent im Vergleich zu 2021).

Die Kohle-Rückkehr war zum einen durch den hohen Erdgaspreis bedingt, der die Kohleverstromung fast über das ganze Jahr hinweg günstiger machte als den Einsatz von Gaskraftwerken. Zum anderen waren 2022 als Reaktion auf Gas-Versorgungsengpässe Kohlekraftwerke zurück ans Netz geholt worden, sodass Ende des vergangenen Jahres 2 Gigawatt mehr Kohlekapazitäten im Markt waren als Ende 2021. „Die Rückkehr der Kohle steht im klaren Widerspruch zu den Klimazielen“, sagt Simon Müller. „Wir brauchen mehr Tempo beim Erneuerbaren-Ausbau, um Emissionen zu senken und wir müssen den Kohleausstieg 2030 absichern.“ Dies sei auch zentral, um die absehbar höhere Stromnachfrage durch mehr Elektroautos, Wärmepumpen und strombasierte Industrieprozesse klimafreundlich zu decken.

Klimasofortmaßnahmen 2023 entscheiden über das Erreichen der Klimaziele

Erdgas-, Kohle- und Erdölpreise stiegen an den Großhandelsmärkten in Deutschland und Europa im Jahr 2022 auf Rekordhöhen: Gegenüber dem Jahresmittelwert 2021 stiegen die Preise 2022 an den Energiebörsen im Durchschnitt um 167 Prozent für Erdgas, um 157 Prozent für Steinkohle und um 54 Prozent für Mineralöl. Die Preisausschläge drückten den Strom- und Erdgasverbrauch ab März und dann gegen Jahresende nochmal deutlich, als die hohen Strompreise für Haushalte in den Abschlagszahlungen sichtbar wurden.

2023 bleiben die Energiepreise voraussichtlich auf hohem Niveau, erwartet Müller: „Gerade der schnelle Ausbau von Solarenergie kann jedoch die Preise zügig dämpfen.“ Neben dem Erneuerbaren-Turbo sei eine Elektrifizierungsoffensive durch Wärmepumpen in Haushalten und Industrie zentral. „Die Regierung muss jetzt schnell das Potenzial der Erneuerbaren Energien, von Effizienz und Elektrifizierung für die Krisenbewältigung aktivieren, so dass wir bis Ende 2023 unabhängiger von fossilen Energien und von deren volatilen Preisen sind.“

„Ein Scheitern mit Ansage“

Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende des ökologischen Verkehrsclubs VCD, kritisiert angesichts des besonders schlechten Abschneidens des Verkehrssektors Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) für seine Untätigkeit: „Erneut hat der Verkehrsbereich seine Klimaziele gerissen, die CO2-Emissionen sind zuletzt sogar weiter gestiegen – angesichts der Untätigkeit des Verkehrsministeriums ein Scheitern mit Ansage“, so Haarmann. Statt die Sektorziele aufzuweichen, um so das eigene Versagen zu kaschieren, müsse Bundesverkehrsminister Wissing nun endlich aktiv werden. „Nach wie vor ist er nicht bereit, eine wirkliche Verkehrswende einzuleiten. Und bis heute fehlt ein Klimaschutzsofortprogramm, das diesen Namen verdient.“

Die vermeintliche Freiheit des Autofahrens werde höher gewichtetet als das Wohl der Allgemeinheit, erbost sich Haarmann: „Ein Tempolimit auf Autobahnen wird nach wie vor konsequent abgelehnt, obwohl mittlerweile eine Mehrheit der Bevölkerung dafür ist. Um die Klimabilanz zu retten, klammert sich das Verkehrsministerium allein an die Elektromobilität, anstatt klimaschädliche Subventionen für Verbrenner endlich zu streichen“. Selbst der im Koalitionsvertrag vereinbarte Vorrang für die Schiene werde durch das sture Festhalten an überflüssigen Autobahnprojekten konterkariert. Das Deutschlandticket könnte ein Erfolg werden, macht aber alleine noch keinen guten ÖPNV, sagt die VCD-Vorsitzende. „Vielmehr braucht es überall ein attraktives Angebot. Dafür braucht es jetzt massive Investitionen. Die Zeit zum Umsteuern wird knapp.“

Auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang lässt kein gutes Haar am Verkehrsminister. In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland fordert sie Wissing auf, für eine nachhaltige Senkung des CO2-Ausstoßes im Verkehrssektor zu sorgen: „16 Jahre verfehlte Klima- und Energiepolitik und die Auswirkungen eines Krieges, die im letzten Jahr erhebliche Kraftanstrengungen zur Gewährleistung der Energiesicherheit gefordert haben, hinterlassen ihre Spuren auch in der Klimabilanz“, sagte Lang. Das Verkehrsministerium müsse „dringend einen Plan vorlegen, wie die Klimaziele im Verkehrssektor erreicht werden sollen. Dazu könnten beispielsweise Investitionen in eine zuverlässige, pünktliche Bahn oder die überfällige Reform des Dienstwagenprivilegs gehören“, sagte die Grünen-Politikerin. Wenige Tage zuvor hatte sich auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ähnlich geäußert.

Quelle: Agora Energiewende – Pressemitteilung vom 04.01.2023 / VCD – Pressemitteilung vom 04.01.2023 / Süddeutsche Zeitung – Grünen-Chefin Lang greift Verkehrsminister Wissing an

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Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer

Michael Neißendorfer ist E-Mobility-Journalist und hat stets das große Ganze im Blick: Darum schreibt er nicht nur über E-Autos, sondern auch andere Arten fossilfreier Mobilität sowie über Stromnetze, erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit im Allgemeinen.
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Norbert Seebach:

Es ist mir ein Rätsel, weshalb das für die Klimapolitik so essentielle Verkehrsministerium seit gefühlten Ewigkeiten stets Politikern anvertraut wird, die am weitesten von jeglicher ihr Ressort betreffenden Sachkompetenz entfernt sind. Von den Lobby-gesteuerten Totalversagern der Amigo-Partei CSU (herausragendsten Leistungen bisher: Verbrennen von mehr als einer halben Milliarde Euro auf Basis populistischen Stammtisch-Geschwafels, unverhältnismäßige Begünstigung von Bayern bei Verkehrsinvestitionen…) war nichts anderes zu erwarten. Offensichtlich ist allerdings auch Herr Wissing, der ja schon einmal wegen einer kritischen Äußerung zum Verbrennungsmotor von seinem Herrn und Meister zurückgepfiffen wurde, nicht in der Lage, das durchzusetzen, was sachlich dringend geboten ist. Selbst ein Tempolimit, das sogar gratis zu haben wäre (!) ist bei der Porsche-Fraktion offenbar nicht durchsetzbar. Schlußendlich hat sich Wissing mit der Nummer zum „Schildermangel“als Begründung gegen Tempolimits endgültig in die Reihe der Totalversager eingereiht.

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